Wir alle stehen hier für Gunit und Angad!
Ihnen wurde ein zweites Mal ihre Heimat entrissen, ein zweites Mal ihre Freunde genommen, ein zweites Mal ihre Zukunft in Frage gestellt. Sie wurden in ein Land gebracht, das für sie fremd ist, dessen Sprache sie nicht sprechen, dessen Kultur sie nicht kennen. Sie wurden ein zweites Mal entwurzelt, ohne Rücksicht auf ihr junges Alter, auf ihre Verletzlichkeit, auf ihr Recht auf ein behütetes Aufwachsen.
Sie sind abgeführt worden wie Verbrecher. Und ich sage euch als Person, die als Schöffin mit jungen Menschen arbeiten muss, die Verbrechen begangen haben: Auch diese Jugendlichen hätten es nicht verdient, so behandelt zu werden, denn menschenunwürdiges Vorgehen ist gegenüber allen Menschen verwerflich. Aber Gunit und Angad waren das genaue Gegenteil. Sie waren vorbildlich, sie waren lieb, sie haben ihre Sachen erledigt und Freundschaften gepflegt, ein Schulabschluss stand bevor. Also frage ich dich, Bunderepublik Deutschland: Was willst du noch? Was muss ein Mensch leisten, was muss ein Kind leisten, damit du ihm eine Daseinsberechtigung gibst, was?
Doch es geht hier nicht nur um Gunit und Angad. Diese radikale Abschiebungspolitik hat tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Unsere Werte und Rechtsstaatlichkeit sind gefährdet, weil Humanität fehlt, weil Prinzipien infrage gestellt werden, auf die man sich mal einigte. Wir setzen unser gesellschaftliches Klima aufs Spiel, indem wir Polarisierung zulassen, Rassismus verstärken, unseren Diskurs verrohen lassen. Wir müssen mit extremen wirtschaftlichen Folgen rechnen, weil Integrationskosten ins Nichts investiert werden, weil Potential unser Land verlässt, weil Deutschland mit einem inhumanen Ruf sein internationales Ansehen beschädigt. Und nicht zuletzt, weil unfassbares menschliches Leid in Kauf genommen wird.
Diese Politik traumatisiert, stigmatisiert und zerstört unsere soziale Kohäsion. Es geht nicht nur um die Menschen, die Familien, die Kinder, die gehen müssen, es geht hier um uns alle!
Wir müssen uns fragen, welche Werte wir als Gesellschaft vertreten wollen. Sind wir bereit, das Wohl von Kindern und ihre Rechte für vorgeschobene ordnungspolitische Ziele zu opfern?
Oder sind wir in der Lage, eine Balance zu finden zwischen der humanitären Verantwortung, Menschen in Not Schutz zu gewähren, und der Notwendigkeit, die Integration in unsere Gesellschaft zu gestalten, zu fördern, aber auch zuzulassen?
Ich glaube fest daran, dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, diese Herausforderungen zu meistern.
Durch eine Beschleunigung der Asylverfahren, die Investitionen in Bildung, Sprachförderung und Integrationsprogramme, durch verstärkte Bekämpfung von Rassismus und durch eine konstruktive Debatte über die Zukunft unserer Einwanderungsgesellschaft, ist das möglich.
Anstatt Familien mit Kindern abzuschieben und damit unnötiges Leid zu verursachen, sollten wir uns darauf konzentrieren, eine humane und praktikable Asylpolitik zu gestalten, die sowohl den Schutzbedürftigen gerecht wird als auch die Integration in unsere Gesellschaft ermöglicht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar – das gilt insbesondere für die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, unsere Kinder. Eine Gesellschaft, die Kinderrechte achtet und Familien schützt, ist eine starke und humane Gesellschaft. Abschiebungen von Familien mit Kindern untergraben diese Werte und beschädigen uns nachhaltig.
Seit dem Wahlkampf ist ein neues Thema in die Jugendarbeit eingezogen. Neben multipler Krise mit Klimawandel, Krieg und Flucht, Pandemie und dem ganz normalen Jugendalter, das alleine schon eine Krise ist, kommt nun noch die Angst vor Abschiebung dazu. Wie lange werde ich noch da sein? Wie lange wird meine Familie noch da sein? Was kann uns passieren? Diese existenziellen Fragen werden Lehrer*innen und Sozialarbeitenden von jungen Menschen jeden Tag gestellt. Und nun wird sie bestätigt die Angst: Ja, Kinder werden in unserem Land abgeschoben! Wir sollen also Kindern und Jugendlichen Werte vermitteln, die dann gar nicht mehr Teil ihres Lebens sind? Damit torpediert sich unser Land selbst!
Deshalb ist es genau richtig, dass hier heute so viele Menschen gekommen sind, denn es ist völlig inakzeptabel, dass sich hier ein neuer Weg abzeichnet, den wir stillschweigend dulden werden. Ich danke allen Menschen, die hier heute hergekommen sind, allen Jugendlichen, die hier heute für Gunit und Angad ihre Stimmen erhoben haben. Ich danke Anette Günther, Frank Reinhardt, Kaouter Tezi, John Pfandler, Greta Bauer und dem gesamten Team Jugendhilfe, allen anderen Menschen der Johanna-Tesch-Schule, den Eltern, anderen Organisationen und allen Demonstrant*innen, dass ihr diesen Kindern heute diese laute Stimme gebt, dass ihr nicht hinnehmt, dass ihr fordert, euch empört!
Und an all diejenigen unter euch, die auch persönlich betroffen sind, die Angst vor der Zukunft haben und die sich vom aktuellen politischen Klima bedroht fühlen: Wir stehen hier für euch, all das ist auch für euch. Wir sehen euch, wir stehen neben euch, wir werden niemals damit aufhören!
(16.5., Opernplatz, Katharina Hellwig)